Strategie & Geschäftsfelder, 02. August 2021

So können Betroffene der Unwetterkatastrophe ihr Trauma verarbeiten

ERGO hat psychologische Hilfsangebote eingerichtet

Dr. Angélique Mundt, Psychologin und Psychotherapeutin, und Dr. Wolfgang Reuter, Gesundheitsexperte der DKV

Die Unwetterkatastrophe hat zehntausende Menschen, insbesondere in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, schwer getroffen. Starkregen und Überflutungen bedrohen ihre Existenzen. Das macht den Betroffenen, aber auch den Helfern psychisch schwer zu schaffen. ERGO hat daher psychologische Hilfsangebote eingerichtet. Im Interview erklären Dr. Angélique Mundt, Psychologin und Psychotherapeutin, und Dr. Wolfgang Reuter, Gesundheitsexperte der DKV, was in der Bewältigung von Traumata jetzt wichtig ist und wie psychologische Hilfe aussehen kann.

Große Naturkatastrophen wie das Tief „Bernd“ sorgen für enorme Schäden und Zerstörung. Menschen verlieren ihre Wohnungen und Häuser und im schlimmsten Fall sind Angehörige und Freunde der Flut zum Opfer gefallen. Was macht das mit den Betroffenen?

Wolfgang Reuter: Bei Naturkatastrophen gibt es in der Regel sehr viele Betroffene und nicht einen Einzelnen. Das bedeutet wiederum: Keiner ist allein. Diese Erkenntnis kann erst mal bei der Bewältigung helfen. Trotzdem übersteigen solche Katastrophen unser alltägliches Verarbeitungsvermögen. Wir haben damit meist keine Erfahrungen oder Bewältigungsstrategien. Das führt bei Betroffenen zuerst zu Ohnmachtsgefühlen und Hilflosigkeit. Ängste können dazu kommen, vor allem wenn die Katastrophe noch nicht vorbei ist.

Welche Traumata oder Ängste können denn entstehen, wenn Menschen durch solche Katastrophen alles verlieren?

Angélique Mundt: Wenn das traumatische Ereignis – also diese Flut – vorbei ist, kommt für viele Menschen die Frage: Wie geht mein Leben weiter? Viele haben ihren Wohnraum, ihren Arbeitsplatz oder im schlimmsten Fall Angehörige verloren. Sie haben furchtbare Dinge erlebt. Das normale Alltagsleben ist vorbei. Aus dieser Belastung können Posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen oder auch Angststörungen entstehen. Aber nicht alle Menschen gehen traumatisiert aus der Katastrophe hervor, weil sie möglicherweise psychisch gefestigter sind und viel soziale Unterstützung haben. Was uns stärkt, ist individuell verschieden.

Gibt es bestimmte Phasen, die Menschen nach so einem Erlebnis durchleben?

Mundt: Im ersten Moment steht bei den Menschen erst mal der Schock, dass so etwas Schreckliches passieren konnte. Sie müssen kognitiv verstehen, was überhaupt geschehen ist und die Gefühle aushalten. Wenn sie dann aber in die Aktivität kommen, ist das der erste Schritt zur Verarbeitung. Also konkret: Das Aufräumen des gesamten Chaos´ und dabei auch Hilfe zu erhalten. Das schafft ein Gefühl der kollektiven Solidarität, hilft bei der Verarbeitung und wirkt der Hilflosigkeit entgegen. Wenn man etwas tun kann, gibt es einen ersten Lichtblick in eine Zukunft. Die langfristige Verarbeitung einer solchen Katastrophe kann aber viele Jahre dauern.

Kann es auch Spätfolgen geben, die sich erst nach einiger Zeit bemerkbar machen?

Reuter: Ja, aber die Reaktionen sind auch hier sehr individuell verschieden. Manche Menschen reagieren zuerst kühl und analytisch auf Krisen, andere wiederum brechen zusammen. Alles ist normal in dieser unnormalen Situation. Ist die erste existentielle Bedrohung überstanden, können neben der Erschöpfung auch langfristige Belastungsreaktionen auftreten: Angststörungen, Depression oder eine Posttraumatische Belastungsstörung sind denkbar. Dies ist abhängig von der individuellen Resilienz und der Hilfe, die die Betroffenen erhalten haben.

Wie wichtig ist es in diesem Zusammenhang, den Opfern psychologische Hilfe anzubieten?

Mundt: Aus der Katastrophen- und Traumaforschung wissen wir, dass eine schnelle Hilfe wichtig ist, um die Belastungen möglichst klein zu halten. In diesem Fall war es aber gar nicht so einfach, sofort psychologisch zu helfen. Die Bedrohung war ja nicht direkt vorbei, sie dauert vielmehr sogar noch an – so schauen wir doch auch weiterhin besorgt auf die Wettervorhersagen und hoffen, dass insbesondere die schon stark geschädigten Regionen von erneuten Unwettern verschont bleiben. Hinzu kommt: Das Ausmaß der Bedrohung hat sich erst nach und nach gezeigt. Beispielsweise, wenn nach ein paar Tagen erst klar war, dass das eigene Haus nicht mehr zu retten ist oder Vermisste nicht mehr gerettet werden konnten. Es ist also wichtig, Hilfsangebote zu schaffen, die schnell und unkompliziert genutzt werden können. Deshalb hat ERGO Angebote für Kunden und Mitarbeitende im Innen- und Außendienst eingerichtet, die in der aktuellen Situation psychologische Unterstützung bieten.

Wie lässt sich denn konkret psychologisch helfen?

Mundt: In solchen absoluten Ausnahmesituationen, die Traumata hervorrufen können, funktioniert unser Gehirn nicht so, wie im normalen Zustand. Es schaltet dann in eine Art Notfallmodus, in dem wir nicht alles geordnet aufnehmen können. Mit einer psychologisch geschulten Fachkraft zu sprechen, kann helfen, Dinge besser zu sortieren. Sie helfen den Betroffenen, ihre Gefühle zu regulieren, Trauer auszudrücken, die nächsten Schritte zu planen. Außerdem können die Experten die Menschen ganz gezielt unterstützen, hilfreiche Institutionen vor Ort zu finden und zu nutzen.

Menschen, die vor Ort im Katastrophengebiet helfen – wie auch ERGO Vertriebspartner und Schadenregulierer –, werden mit dem Leid der Betroffenen unmittelbar konfrontiert. Inwiefern ist es wichtig, dass sie auch die Möglichkeit haben, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen?

Reuter: Menschen, die vor Ort helfen und mit dieser Katastrophe und dem Leid konfrontiert werden, können schlichtweg damit überfordert sein. Die meisten Menschen fühlen mit den Opfern mit. Aber wenn sie zu sehr mitleiden, können sie ihnen nicht mehr helfen. Und auch die Helfer sind mit dem Erlebten allein und müssen das erst mal verarbeiten. Auch hier können psychologische Experten den Helfern Ratschläge geben und ihnen erklären, wie man mit den Betroffenen umgehen kann. Und vor allem: Was können sie für sich tun und wie können sie sich mental von dem gesehenen Leid distanzieren?

Was sollten Betroffene solcher Naturkatastrophen konkret tun? Was sind die entscheidenden Schritte?

Reuter: Ganz wichtig ist für diese Menschen, dass sie herausfinden, was ihnen guttut. Die meisten sind momentan damit beschäftigt, ihre Existenzgrundlage zu sichern. Für sie ist es wichtig, dass sie Hilfe von anderen Menschen annehmen. Außerdem sollten sie sich klarmachen, dass sie nach diesem Erlebnis nicht wie vor der Katastrophe funktionieren müssen. Sie brauchen viel öfter Pausen, um sich zu erholen. Auch Ablenkung ist wichtig, gerade für Kinder. Sich Dinge aufschreiben, sozusagen von der Seele schreiben, kann zudem helfen.

Interview: Benjamin Esche


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