Einfach, weil's wichtig ist.
Einfach, weil's wichtig ist.
Digitalisierung & Technologie, 07. Dezember 2021
Der Tech-Trend-Radar von Munich Re und ERGO ist ein jährliches Update der Digitalinnovationen. Eine Art Fernglas, mit dem man in die technologische Zukunft der kommenden fünf bis zehn Jahre schauen kann. Hier werden die jüngsten Tech-Hypes aus dem Blick eines Versicherers beleuchtet und bewertet. Einem Chief Digital Officer wie Mark Klein kribbelt es dann schnell in den Fingern: Man will direkt loslegen und die Technologie zur Anwendung bringen. Das aber ist schon der erste Fehler – digitale Transformation nur von der Technologie her zu denken. In diesem Artikel soll es um die Stolpersteine beim Digitalisieren gehen. Keine Sammlung aus dem Lehrbuch, sondern Mark Kleins Erfahrungen aus gut zehn Jahren, die er bereits im Digitalbusiness arbeitet.
Mit der 5G-Technologie hat das mobile Internet auf Highspeed umgeschaltet. Die Datenübertragung sorgt dafür, dass man einen Spielfilm binnen fünf Sekunden auf dem Smart-Phone hat. Im Vergleich zu 6G ist der heutige Standard jedoch eher träge. Mit der „6“ sollen Spitzendatenraten von bis zu 1 Terabyte pro Sekunde möglich sein. Dann können ganze Film-Datenbanken binnen fünf Sekunden geladen werden.
Spannend wird die Technologie aber vor allem im Zusammenhang mit autonom fahrenden Autos. Der neue Standard wird die Latenzzeit weiter verringern, die Zeit also zwischen digitalem Impuls und Reaktion. Muss das Auto eine Notbremsung vollziehen, soll 6G eine autonome Bremsreaktion ermöglichen, die ein Mensch mit seiner Reaktionszeit niemals hinbekommen würde.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich möchte mich bei diesem Ausblick im jüngsten Tech-Trend-Radar sofort mit unseren Automobilpartnern in Deutschland oder China zusammentun – um Ideen für innovative Produkte zu entwerfen.
Was aber ist, wenn 6G viel mehr verspricht, als es jemals wird halten können? Werden neue Technologien entwickelt, entsteht etwas, was wir „Hype Cycle“ nennen. Auf Technikshows vorgestellt, schießen die Erwartungen, die an das Neue geknüpft sind, in den Himmel. Danach stürzen sie erst einmal wieder ab und pendeln sich später auf einem realistischeren Niveau ein. Im besten Falle können die Versprechen, die mit der Technik verknüpft werden, dann in echte Innovationen übersetzt werden.
Grundsätzlich starten Innovationen fast immer mit technologischen Verbesserungen. Deshalb sind wir bei ERGO mit einem eigenen Scouting-Team unterwegs, um rechtzeitig die richtigen Ideen mitsamt der richtigen Player ausfindig zu machen. Wie groß beim Hype-Cycle der Zeitraum zwischen überzogenen Erwartungen zu Beginn und echter Produktivitätssteigerung später ist, das differiert von Technologie zu Technologie. In dieser Zeitspanne lässt sich viel Pionierarbeit leisten und ein Vorsprung erarbeiten. Man kann aber auch Potenzial, Ideen und Kreativität vergeuden, weil man mit einer unreifen Innovation arbeitet, die am Ende den Praxistest nicht besteht.
Zu dieser Phase der Ungewissheit kommt eine weitere Herausforderung hinzu: Treiber einer Innovation sind meistens die Digitalisierer selbst. Sie sind qua ihrer Tätigkeit den anderen im Unternehmen voraus, haben die Trends auf den Technikmessen mitbekommen. Fast zwangsläufig versuchen sie, die anderen zu überzeugen, das Neue anzuwenden. Man „strickt“ eine Lösung um eine Technologie herum. Es muss aber i-m-m-e-r genau andersherum laufen. Man hat ein Problem und sucht nach Lösungen mithilfe der passenden Technologie. Entscheidend ist, den Use Case vor Augen zu haben. Man muss vor allem in dieser Phase die Technikbegeisterung bremsen, sie beiseite packen und gemeinsam mit den eigentlichen Business Partnern analysieren. Man will schließlich ein Problem lösen und nicht die neueste Technik verbauen. Digitalisierung der Digitalisierung wegen geht nicht.
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aller Fachbereiche sofort in die Digitalisierungsprozesse einzubeziehen, das ist ein Kernbestandteil unserer Strategie geworden. So bringen wir nicht nur das entscheidende Prozess-Know-how sofort auf den Tisch. Das führt auch dazu, dass die Akzeptanz für digitale Transformation unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern deutlich ansteigt. Wir haben das insbesondere rund um unsere Robotics-Prozesse erfahren können, die bei den Kolleginnen und Kollegen sehr gut ankommen.
Allerdings haben wir eine ordentliche Lernkurve hingelegt, bis wir so weit waren, dies klar zu adressieren. So ist die Idee der Digital Factory entstanden. Aber dazu unten mehr. Ähnlich geht es aktuell so manchem in der Gesundheitsbranche. Dort verbringen Ärzte, Pfleger und Schwestern immer mehr Zeit mit Dokumentationen am Computer. Bis zu 4.000 Tastaturklicks vollführt eine Person pro Schicht. Sie dient damit allen – den Versicherern, den Kassenärztlichen Vereinigungen, den medizinischen Diensten und den staatlichen Gesundheitsstatistikern – jedoch nicht den Patienten.
Bis zu einem Drittel der Arbeitszeit müsse inzwischen für Dokumentationspflichten angewandt werden, heißt es. Zeit, die bei der eigentlichen Kernaufgabe fehlt. Nach Aussage von Kollegen aus der Gesundheitsbranche sind die Dokumentationsmasken am PC das, was das medizinische Personal als Digitalisierung wahrnimmt. Entsprechend niedrig ist die Akzeptanz für alles, was im Hinblick auf Digitalisierung noch kommt – und vielleicht tatsächlich helfen könnte.
Hier kann ich aus eigener Erfahrung nur sagen: Digitalisieren, ohne die Kolleginnen und Kollegen mitzunehmen und sie zu gewinnen, funktioniert nicht! Sie wollen sinnvolle Lösungen und brauchen einen Partner, der sie für sie baut.
Wir haben bei ERGO eine Liefereinheit installiert, die wir Digital Factory nennen. Hier wird agil gearbeitet, Scrum-Master kümmern sich darum, dass die Experten im Team ihre Arbeit machen können. Wir haben hier schon viele Produkte entwickelt. Der wichtigste Faktor – neben dem Einbeziehen des Kunden – ist, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterschiedlicher Bereiche nebeneinander und vor allem miteinander arbeiten. Nicht für ein Meeting, sondern dauerhaft.
Die bereichsübergreifenden Teams müssen nicht anrufen, um sich abzusprechen. Sie können zum Nachbar-Arbeitstisch hinübergehen. Sie müssen nicht ihre Vorgesetzten fragen, ob sie sich Extrazeit nehmen dürfen. Sie sind hier, um gemeinsam mit anderen Probleme in Lösungen umzuwandeln.
Dieses Setting reduziert nicht nur hierarchisches Vorgehen und stärkt eine Ownership-Mentalität unter den Mitarbeitenden. Es fördert auch ein bereichsübergreifendes Problemlösungs-Denken. Die lähmende „wir haben´s erfunden“ Silo-Kultur wird damit automatisch klein gehalten.
Man hat eine Idee, ein schlüssiges Realisierungskonzept und überhaupt eine klare Vorstellung dessen, wie die Lösung aussehen soll: das wäre ideal, ist aber fernab der agilen Vorgehensweise beim Digitalisieren. Trotzdem ist dieses analoge Vorgehen immer noch verbreitet. Man geht mit einem Masterplan in die Werkstatt und taucht irgendwann mit der fertigen Lösung wieder auf. Das funktioniert aber nicht, weil wir den Kunden und seine Bedürfnisse viel weniger kennen, als wir glauben.
Deshalb versuchen wir im agilen Set erst gar nicht den Kunden zu lesen – wir fragen ihn lieber. So bauen wir keine fertigen Produkte, sondern Prototypen oder Minimal Viable Products (MVP). Deshalb arbeiten wir in zweiwöchigen Sprints, nach deren Ablauf das MVP wieder einen neuen Zusatznutzen vorzuweisen hat. Gerade so umfänglich, dass man erneut den Kunden einbeziehen und ihn mit der Neuerung konfrontieren kann.
Dieses Vorgehen hat zwei Vorteile. Man weiß recht schnell, ob man falsch abgebogen ist. Gleichzeitig hat man bis zu diesem Kunden-Schulterblick nicht allzu viel Kapazitäten und Budget – eventuell umsonst – verbraucht. So waren wir bei ERGO beispielsweise überzeugt davon, eine Gamer-Versicherung anbieten zu müssen. Inzwischen sind wir schlauer, sie funktioniert unter bestimmten Parametern nicht. Allerdings haben wir die Police im MVP-Modus gebaut. So hatten wir eine schnelle Antwort der Gamer zu minimalen Kosten.
Neue, digitale Technologien benötigen neue Expertise. Meistens findet man diejenigen, die es können, erst einmal nicht im eigenen Unternehmen. Seitens ERGO und Munich Re gehen wir dann strategische Partnerschaften ein oder kaufen nationale wie internationale Start-ups hinzu. Nur so können wir einen Know-how-Transfer herstellen und die gewünschten Anwendungen für unsere Geschäftsfelder entwickeln.
Wollen wir jedoch eine Technologie längerfristig nutzen, dann bauen wir eigene Kompetenzzentren mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von ERGO auf. Mit Robotics, Voice und Künstlicher Intelligenz betreiben wir inzwischen drei solcher Cluster. Man muss sich aber nichts vormachen: das Know-how intern aufzubauen ist aufwändiger und dauert länger.
Dafür ist der Return-on-Invest um ein Vielfaches höher. Nur intern können wir so enge und nachhaltige Schnittstellen zu den Business Units etablieren. Wir entwickeln uns nicht nur technologisch weiter, sondern kreieren Prototypen, die nur in dieser Konstellation zwischen Digitalisierer und Business entstehen können. Nicht zu unterschätzen ist der kulturelle Wert bzw. der Beitrag zur digitalen Transformation des gesamten Unternehmens.
Wir haben vielfach den direkten Vergleich erlebt: Wir fingen an mit externen Experten und wechselten dann zu den internen Clustern. Die Zufriedenheit bei unseren internen Kunden und die Problemlösungskompetenz konnten wir – immer – deutlich steigern.
Text: Mark Klein, CDO ERGO Group
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