Strategie & Geschäftsfelder, 25. August 2025

Allgemeine Verunsicherung? Das Bedürfnis nach Sicherheit in krisenhaften Zeiten

Interview mit Susanne Waldow-Meier (Zukunftsforscherin, Alumna der Freien Universität Berlin)

Verschommene Menschenmenge

Klimawandel, Kriege, Polarisierung: Studien zeigen, dass viele Menschen sich von den Krisen der Zeit überfordert fühlen und unsicher in die Zukunft blicken. Verlieren wir die Kontrolle über unser Leben? Was können wir tun, um das Maß an Sicherheit zurückzugewinnen, das wir brauchen, um unsere Zukunft selbstbewusst zu gestalten? Darüber haben wir mit Susanne Waldow-Meier (Zukunftsforscherin, Alumna der Freien Universität Berlin) gesprochen.

Frau Waldow-Meier, wie reagieren Menschen, wenn sie das Gefühl haben, in einer krisenhaften Zeit zu leben? Gibt es tatsächlich eine Art neuer Verunsicherung oder eine neue Sehnsucht nach Stabilität?

Ja und nein. Als Menschen sind wir in ein offenes Verhältnis zur Welt gestellt, und darin liegt nun die Möglichkeit von Freiheit und Unsicherheit gleichermaßen. Historisch haben wir diese Unsicherheit absorbiert und gebändigt unter anderem durch Kultur, durch Konventionen, Rituale, und so weiter, die uns Verstehbarkeit und Handhabbarkeit unseres Alltags in einem Kollektiv ermöglichen.

Betrachten wir andererseits unseren aktuellen Kontext. Im Bericht der Vereinten Nationen über die menschliche Entwicklung, der 2022 veröffentlicht wurde, wird durchaus ein neuer Unsicherheitskomplex thematisiert, der sich aus vier Komponenten zusammensetzt:

Da haben wir einerseits den bedrohlichen planetarischen Wandel im Anthropozän (Benennung der gegenwärtigen geochronologischen Epoche als Zeitalter, in dem der Mensch zum bestimmenden Faktor des globalen Ökosystems geworden ist), den Menschen wahrnehmen. Dieser wird begleitet vom Streben nach weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen. Darüber hinaus wird eine scheinbar stärker werdende Polarisierung thematisiert. Diese drei Strömungen beeinflussen sich gegenseitig und unsere tagtägliche Ungewissheit, mit der wir seit jeher konfrontiert sind.

Wir erleben vielfältige Formen von Krisen, die zum Beispiel die demokratischen Systeme unterminieren, und viele Menschen gewinnen den Eindruck, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren. Dieses Gefühl des Kontrollverlustes hat seine Grundlage in realen Problemen, die schwer zu lösen sind. Die Lösungen erfordern lange, anstrengende Untersuchungen und Kooperationen.

Wenn wir ein solches Gefühl des Kontrollverlusts beobachten können: Ergibt sich daraus ein neues Sicherheitsbedürfnis, und wenn ja, wie schlägt sich das nieder? Gibt es den Trend zu den sogenannten klassischen Sicherheiten in der Lebensgestaltung, wie zum Beispiel „sicherer Arbeitsplatz“, „Eigenheim“, „Heirat“, „Versicherungen“. Sind es diese Klassiker?

Sowohl als auch. Vom Rheingoldinstitut gibt es eine große repräsentative Studie von 2023 mit 1.000 Teilnehmenden zum Thema Zukunfts-Zuversicht:

60 Prozent der Menschen fühlen sich von gegenwärtigen Krisen überfordert. Knapp 70 Prozent ziehen sich gerne ins Private zurück. Menschen orientieren sich an Kollektiven: an einer Familie als kleiner Gemeinschaft, an einem Verein, in einem Stadtteil, in dem sie leben. Kollektive Kultur mit all ihren Spielarten ist unser Anker, um Sicherheit zu fühlen. Wir haben uns Referenzrahmen geschaffen in unserem Leben, und dazu gehören eben auch solche Dinge, wie Sie sie beschreiben. Innerhalb dieser Referenzrahmen erklären wir uns die Welt – wir orientieren uns an ihnen. Auch in der aktuellen Situation mit ihrer Gleichzeitigkeit der Krisen und ihrer Komplexität geben sie uns Halt, aber die Frage ist: Liefern sie uns Lösungen?

Menschen orientieren sich an Kollektiven: an einer Familie als kleiner Gemeinschaft, an einem Verein, in einem Stadtteil, in dem sie leben. Kollektive Kultur mit all ihren Spielarten ist unser Anker, um Sicherheit zu fühlen.

Susanne Waldow-Meier (Zukunftsforscherin, Alumna der Freien Universität Berlin)

Diese Sicherheitsklassiker – Arbeit, Haus, Familie, Versicherungen – das ist ja in gewisser Weise auch das, was als vernünftig gilt. Man verhält sich vernünftig, bereitet sich vor und erhofft sich dadurch Sicherheit für die Zukunft. Ist denn Ängsten und Unsicherheitsgefühlen rational überhaupt beizukommen? Wir sehen ja zum Beispiel, dass der Zulauf zu populistischen Parteien, die diese Ängste politisch bewirtschaften, eben auch aus gesellschaftlichen Gruppen kommt, denen es eigentlich gut geht. Sind all diese klassischen rationalen Sicherheitsstrategien vielleicht nicht ausreichend, um mit einem guten Gefühl in die Zukunft zu blicken?

Ich gehe sehr davon aus, dass das nicht ausreicht. Vernunft als Kompass begleitet uns seit der Aufklärung und ist eng verknüpft mit dem Ideal einer souverän handelnden, freien Person. Unser Bildungssystem vermittelt uns Kompetenzen, welche uns urteils- und leistungsfähig machen sollen, um weltliche Anforderungen mit einem überwiegend stark kognitiv orientierten Anspruch bewältigen zu können.

Was wir weniger lernen und geübt haben, ist das Thematisieren von Unsicherheit, Zweifel oder Erschöpfung. Solche Erfahrungsqualitäten werden tabuisiert oder pathologisiert.

Gleichzeitig – Sie sprechen den Rechtspopulismus an – werden solche Emotionen als Nährboden genutzt, um einfache Antworten anzubieten. Mir scheint es dringend an der Zeit, dass wir eine andere Kultur des Dialogs, des Austausches und der Integration dieser Erfahrung finden. Es wäre in meinen Augen sehr hilfreich, die Erfahrung zuzulassen: „Wir wissen nicht genau weiter.“ Solche Erfahrungen teilen viele Menschen; es könnte sehr orientierend sein, wenn wir sie in Debatten mit einbeziehen.

Dafür brauchen wir Räume – die haben wir im Moment sehr wenig, und so brechen sich diese Gefühle zum Teil auf sehr abstruse Weise Bahn. Demokratische Dialog-Räume können im Bereich des Bildungssystems liegen, aber auch in Bürgerversammlungen, Kulturstätten, Kirchen oder Vereinen. Dort könnten Menschen feststellen: „Oh, wir teilen dieses Gefühl der Unsicherheit. Möglicherweise haben wir unterschiedliche Perspektiven, aber eigentlich sind unsere Werte sehr ähnlich. Was wünschen wir uns denn?“ Dann beginnt ein Prozess, in welchem gemeinsam gesucht wird, nach dem Motto: Wir sind noch nicht sicher, wie es wird, aber wir machen uns gemeinsam auf den Weg. Und allein diese Gemeinsamkeit löst schon ganz andere Emotionen aus. Das können Sie in vielen bürgerschaftlichen Initiativen beobachten. Es entsteht soziale Kohäsion, und zwar keine, die ausgrenzt, sondern eine, die Menschen einbezieht. Menschen fühlen sich verbunden, auch wenn sie das Ergebnis noch nicht klar ausmachen können. So entstehen wohltuende, konstruktive Gefühle, die zum Treiber für gemeinsam geschaffene Zukünfte werden können.

Auf diese Weise können „vernünftige“ Lösungen vertieft werden. Das alles hängt miteinander zusammen: Vernunft braucht Herz und andersherum.

Es wäre in meinen Augen sehr hilfreich, die Erfahrung zuzulassen: „Wir wissen nicht genau weiter.“ Solche Erfahrungen teilen viele Menschen; es könnte sehr orientierend sein, wenn wir sie in Debatten mit einbeziehen.

Susanne Waldow-Meier (Zukunftsforscherin, Alumna der Freien Universität Berlin)

Wo wir vom gemeinsamen Handeln sprechen: Ist Handeln an sich etwas, was Unsicherheit entgegenwirkt? Fühlt man sich weniger unsicher, wenn man etwas tut?

Ja. Wir sind handelnde Wesen, die sich die Welt handelnd aneignen von klein auf. Und dadurch schaffen wir uns unsere Referenzrahmen, durch die wir schauen wie durch Brillen, um zu verstehen, wie die Welt gestrickt ist und wie wir handeln müssen, um hier zurechtzukommen. Wenn ich etwas tue, mache ich die Erfahrung, dass ich einen Effekt habe. Dann kann ich prüfen, ob das der Effekt ist, den ich angestrebt habe, und nachjustieren. So kann ich Unsicherheit abbauen. Das ist ein Weg, um aus der Ohnmacht in ein handelndes Suchen, Probieren, Experimentieren zu gelangen, und das ist auf jeden Fall eine Strategie, die uns hilft.

Welche Rolle spielt der Austausch mit anderen Menschen? Im Zusammenhang mit Terrorismus zum Beispiel hören wir oft, dass Menschen sich gerade in der Einsamkeit des Internets radikalisieren. Setzt Einsamkeit vielleicht eine Spirale aus Unsicherheit und Angst in Gang und wäre Gemeinschaft sozusagen eine Art universales Heilmittel?

Ja. Der Einsamkeitsbericht der Bundesregierung und Studien, etwa vom Institut für gesellschaftlichen Zusammenhalt, legen nahe, dass es einen Zusammenhang zwischen Einsamkeit und antidemokratischen Einstellungen gibt.

Wenn sie Menschen fragen, was ihnen Orientierung und Halt gibt, dann ist das häufig das Leben in Gemeinschaft. Das muss nicht eine klassische Familie sein; es kann auch eine Wohngemeinschaft sein oder andere Formen von Beziehungen. Wir leben in Beziehungen, die uns orientieren und in unserem alltäglichen Leben Halt geben.

Diese Art von Lebensqualität können Sie mit keiner Versicherung kompensieren. Wir können sie auch nicht kaufen, aber wir können sie gemeinsam gestalten. All das stärkt uns in dem Gefühl, Ressourcen zu haben im Umgang mit Unsicherheit. Um so eine Kultur können wir uns bemühen. Sie löst die Unsicherheit nicht auf – die ist letztlich nicht auflösbar – aber wir entscheiden immer wieder selbst, wie wir miteinander umgehen. Wie wir uns unterstützen, wie offen wir aufeinander schauen und wie respektvoll – das liegt ganz sicher in unserem Handlungsspielraum.

Jetzt haben wir viele Ansätze angeschnitten, wie man Sicherheitsgefühl vielleicht oder wahrscheinlich stärken kann. Welche dieser Ansätze sind denn besonders wichtig? Sind es die materiellen Aspekte, für die zum Beispiel die Versicherungen stehen, sind es emotionale Aspekte auf einer ganz individuellen Ebene, sind es die sozialen Aspekte, die Eingebundenheit … lässt sich das irgendwie gewichten? Womit fangen wir denn an, wenn wir ratlos und unsicher sind als Gesellschaft?

Zu den materiellen Aspekten: Unser Streben nach Wohlstand ist auch eine Möglichkeit, Unsicherheit zu absorbieren. Wenn wir uns aber umschauen, können wir paradoxerweise feststellen: In den Wohlstandsgesellschaften ist das Unsicherheitsgefühl nicht gesunken. Vielmehr fürchten wir, materielle Ressourcen wieder verlieren zu können.

Natürlich ist Wohlstand eine Ressource: Wenn wir diese heißen Tage erleben, und eine Person ist privilegiert, lebt in einem gedämmten Haus, hat die Möglichkeit kühl zu duschen, dann ist das natürlich eine Ressource, die zu Resilienz beitragen kann. Insofern will ich die Bedeutung dieser materiellen Ressourcen überhaupt nicht in Abrede stellen. In diesem Zusammenhang möchte ich betonen, wie wichtig eine sozial gerechtere Verteilung materieller Ressourcen ist; wichtig für die politische Agenda und gleichzeitig für unser tägliches Erleben.

Die soziale und emotionale Eingebundenheit scheint mir besonders entscheidend zu sein als Bewältigungsstrategie im Umgang mit Unsicherheit. Die Chance teilzuhaben – in Familie, Verein, Schule, Arbeitsplatz, Nachbarschaft usw. Es geht um Beteiligungsmöglichkeiten an Orten, wo wir den Umgang mit Unsicherheit gemeinschaftlich bewältigen können; wo wir überlegen können: Was ist uns jetzt hier wichtig? Wenn wir dann zu Entscheidungen kommen und materielle Ressourcen klug miteinbeziehen, dann greifen Materielles und Soziales im besten Fall ineinander.

Vielen Dank für dieses Gespräch!

Interview: Thorsten Kleinschmidt

Susanne Waldow-Meier, M.A. Zukunftsforschung (FU Berlin)

Susanne Waldow-Meier ist Zukunftsforscherin, Alumna der Freien Universität Berlin. Sie interessiert sich besonders dafür, welchen Einfluss Emotionen auf unsere Wahrnehmung der Zukunft und die Auseinandersetzung mit Krisen nehmen können.

Profil und Kontakt

Susanne Waldow-Meier, Copyright: Ines Grabner Susanne Waldow-Meier (Copyright: Ines Grabner)

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