Können Sie uns den praktischen Nutzen an einem konkreten Beispiel erläutern?
Beim medullären Schilddrüsenkarzinom (MTC), einem sehr seltenen Schilddrüsenkrebs, hat man schon Anfang der 1990ziger Jahre entdeckt, dass der Tumor ein bestimmtes genetisches Merkmal aufweist. Die Genveränderung liegt in rund 60 % aller MTC vor. In 25% der Fälle tritt sie sogar als Keimbahnmutation auf, das heißt, sie ist in jeder Körperzelle vorhanden und wird mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% von einer zur nächsten Generation vererbt. Man fand dann heraus, dass sich anhand des genetischen Codes vorhersagen lässt, in welchem Alter der Schilddrüsenkrebs auftreten wird. Mit diesem Wissen hat man begonnen, Kinder einer Familie mit einer RET-Keimbahnmutation frühzeitig zu operieren, bevor der Krebs überhaupt richtig entstehen konnte. Das waren die Anfänge der Präzisionsmedizin in der Endokrinologie. Natürlich geht die Forschung weiter. Seit gut einem Jahr ist ein Medikament zugelassen, das genau auf dieses „RET-Merkmal“ des MTC ausgerichtet ist und den Krebs wirkungsvoll bekämpft. Ein echter „Gamechanger“, nicht nur weil die Metastasen sehr gut auf das Medikament ansprechen, sondern weil es die Patienten auch sehr gut vertragen.
Das heißt deutlich weniger Nebenwirkungen, und der Krebs wird dann auch heilbar?
Betrachtet man die Krebsmedizin insgesamt, dann gibt es zunehmend Beispiele für Heilung, vor allem bei Kindern. Bei Krebserkrankungen im Erwachsenenalter gelingt es viel häufiger als früher, die Krebserkrankung zurückzudrängen beziehungsweise in „Schach zu halten“. Und zwar unter anderem durch Errungenschaften der molekularen Medizin, die dabei gleichzeitig eine gute Lebensqualität gewährleistet. Natürlich möchten wir als Ärzte immer heilen, wichtig ist aber auch, wie die Patienten leben. Ich würde sagen, in beiden Punkten haben wir immense Fortschritte mit der Präzisionsmedizin erzielt. Es ist heute oft möglich, ein Leben mit „Krebs als chronischer Erkrankung“ zu führen und Familie und Beruf weiter zu (er)leben.
Präzisionsmedizin bedeutet also, dass Patient, individuelle Tumor und maßgeschneiderte Behandlung zusammenkommen. Das klingt nach einem sehr aufwändigen Prozess.
Ja, das ist es auch. Wenn wir beim Thema Krebs bleiben, dann braucht es ein ganzes Team an Spezialisten, um Patienten wirklich zu helfen. Zum Beispiel spezialisierte Ärzte verschiedener Fächer, spezialisierte Pflege, Ernährungsexperten, Psychologen, Sportmediziner, ein Palliativteam. Strukturell unterstützend wirken dabei zertifizierte Zentren, die es für häufige Tumore wie Darm-, Brust- und Prostatakrebs in Deutschland gibt.
Extrem wichtig sind in diesem Kontext auch Anlaufstellen für Patienten mit seltenen Krebserkrankungen. Als ich 2011 die Klinik am Uniklinikum Essen übernommen habe, haben wir ein spezialisiertes Zentrum für endokrine und neuroendokrine Tumore aufgebaut. Heute behandeln wir im endokrinen Tumorzentrum am WTZ, einem der deutschen onkologischen Spitzenzentren und Standort des neuen NCT-West, rund 3.000 Fälle solcher Tumoren. Die Patienten kommen aus ganz Deutschland und teilweise auch aus dem europäischen Ausland zu uns. Wir arbeiten nach dem „One-Stopp-Shop-Prinzip“, d.h. die Patienten werden zentral von uns koordiniert und erhalten im abteilungsübergreifenden Ansatz die gesamte Diagnostik und High-End Therapien aus einer Hand am Uniklinikum Essen. Natürlich geschieht dies alles in enger Abstimmung mit den primärbetreuenden heimatnahen Ärzten des Patienten.
Wir haben im Gesundheitssystem unterschiedlichste Player. Universitätskliniken sind einer davon. Welche Rolle spielen diese aus Ihrer Sicht in unserer Versorgungslandschaft?
Die Universitätsmedizin steht für einen Dreiklang aus Forschung, Lehre und Krankenversorgung. Und genau in dieser Reihenfolge sollte es meines Erachtens formuliert werden. Denn Aufgabe der Universitätsmedizin ist es in erster Linie, Treiber von Innovation zu sein, neue Diagnostiken und Therapien zu entwickeln, Blaupausen zu liefern und ein hohes Spezialistentum vorzuhalten. Universitätskliniken müssen Orte sein, an denen Experten bestmöglich ausgebildet werden, um das Wissen dann an anderen Stellen weiterzugeben und umsetzen. Unter Experten verstehe ich Ärzte, aber auch nicht-ärztliche Berufe. Was die Spezialisierung anbelangt und der Umgang mit komplexen und seltenen Erkrankungen: Hier ist die Universitätsmedizin sozusagen „die letzte Station“, danach kommt nichts mehr! Das ist zugegebenermaßen ein sehr hoher Anspruch, aber genau das muss Universitätsmedizin leisten und dafür ausgestattet sein.
Meine Klinik am Universitätsklinikum Essen ist spezialisiert auf endokrine Onkologie, digitale Diabetologie, Hormonstörungen rund um Organtransplantationen (TREND-E-Programm), sowie seltene endokrine Erkrankungen, für die wir europäisches Referenzzentrum sind. In all diesen Bereichen verbinden wir innovative Forschung – von Grundlagen bis zur klinischen Anwendung – mit einer engen interdisziplinären Versorgung, um die Prognose und Lebensqualität unserer Patientinnen und Patienten nachhaltig zu verbessern.
Universitätsmedizin ist Motor für wissenschaftlichen Fortschritt und neue Konzepte. Vor welchen Herausforderungen stehen wir aktuell, und welche Voraussetzungen sind aus Ihrer Sicht entscheidend für eine leistungsstarke Medizin für alle?
Einerseits leisten wir uns zu viel und auf der anderen Seite sind wir zu wenig konsequent, weil wir in alten Strukturen verharren wollen. Wir haben freien Zugang zu Diagnostik und innovativen, teils sehr hochpreisigen Therapien in Deutschland - das ist großartig. Damit ist aber auch eine Anspruchshaltung in der Gesellschaft entstanden. Auf Dauer funktioniert das nicht mehr, weil wir gar nicht die Ressourcen haben, weder finanziell noch personell. Gleichzeitig zeichnet sich unser Gesundheitssystem durch erhebliche Parallelstrukturen aus - und zwar sowohl in der ambulanten als auch der stationären Versorgung. Universitätsmedizin ist eigentlich eine nationale Aufgabe und benötigt andere Strukturen und Förderung, um Fortschritte in der Medizin in Deutschland sicherzustellen und international konkurrenzfähig zu bleiben. Was aber auch noch sehr grundsätzlich in unserem Gesundheitssystem fehlt, sind echte Anreize für Prävention. Schließlich benötigen wir einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs zum Thema Priorisierung und Eigenverantwortung. Jeder muss auch selbst bereit sein, einen Beitrag für seine eigene Gesunderhaltung zu leisten. Wir müssen also unser Mindset, unsere Erwartungs- und Anspruchshaltung als Gesellschaft ändern. Das ist eine echt große Aufgabe.
Ich teile Ihre Einschätzung – die Förderung von Eigenverantwortung ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Welche konkreten Veränderungen sind aus Ihrer Sicht notwendig, damit wir unser Gesundheitssystem zukunftsfähig machen können?
Zum Beispiel die Bürokratie. Die Dokumentationspflichten im Gesundheitssystem sind Ausdruck unserer starren Strukturen und des Drucks, sich gegen alles abzusichern. Das geht zulasten der Interaktion mit dem Patienten aber auch der Berufsgruppen wie Ärzte, Pflegekraft oder Physiotherapie untereinander. Wir müssen zu einer gesunden Balance zurück. Die allseitige und berechtigte Erwartung ist, dass die Digitalisierung hilft, viele der Barrieren zu überwinden. Dennoch, gerade in der Medizin müssen wir mit den Menschen sprechen und genügend Zeit haben, um für sie da zu sein. Das dürfen wir auch für die zukünftige Gestaltung der Medizin nicht aus den Augen verlieren.
Vielen Dank für den spannenden Einblick in das Thema.