Digitalisierung & Technologie, 2. Oktober 2025

Kognitive Entlastung: Das Gehirn und seine digitalen Helfer

Ist die digitale Technik Fluch oder Segen für unsere geistige Leistungsfähigkeit?

IBM Quantum lab in Yorktown Heights, NY

Digitale Notizzettel, Kalender-Apps, KI-Systeme, Smart Homes und Smart Cars – immer mehr technische Werkzeuge nehmen uns Aufgaben ab, für deren Bewältigung wir uns bisher auf unser Gedächtnis, auf erlernte Routinen oder auf unsere Problemlösefähigkeiten verlassen haben. Schon immer haben Menschen Werkzeuge geschaffen, um sich mühsame körperliche Arbeiten zu erleichtern. Wir lagern aber auch Denken aus und entlasten unser Gehirn von Tätigkeiten, die wir als unangenehm – anstrengend oder langweilig – empfinden oder von denen wir glauben, dass sie uns zu viel Zeit kosten. Das hat Folgen: nicht nur für die Art, wie wir mit Informationen umgehen, sondern auch für die Art, wie wir Entscheidungen treffen und umsetzen.

Kognitive Entlastung

In diesem Zusammenhang wird oft der Begriff „kognitive Entlastung“ („cognitive offloading“) verwendet. Der Ausdruck ist eine Prägung des 21. Jahrhunderts; das Phänomen, dass Menschen Werkzeuge benutzen, um sich von geistiger Arbeit zu entlasten, ist aber sehr alt.

Die größte Entlastung – und ein Meilenstein für die Entwicklung der menschlichen Spezies – war die Entwicklung und Verbreitung von Schrift, Schreib- und – sehr viel später – Druckmedien. Seit wir unsere Ideen aufschreiben und Fakten oder Erzählungen in Büchern sammeln können, brauchen wir nicht mehr alle Informationen oder Geschichten auswendig zu lernen, die wir auch morgen noch verfügbar haben möchten. Das betrifft selbst banale Alltagssituationen: Dank Kalendern, Adressbüchern und Notizzetteln brauchen wir unser Gedächtnis nicht mehr mit Terminen, Telefonnummern oder Aufgaben zu belasten.

Auch Rechenmaschinen erleichtern dem Gehirn schon sehr lange die Arbeit: Bereits vor 4.500 Jahren arbeiteten die Sumerer mit dem Abakus, um nicht alle mathematischen Aufgaben im Kopf rechnen zu müssen.

Kognitive Entlastung im digitalen Zeitalter

Die Möglichkeiten der digitalen Technik haben seit den 1990er-Jahren einen Quantensprung bei den Verfahren kognitiver Entlastung bewirkt. Im Internet ist das Wissen der Welt ständig verfügbar, unabhängig von der Nähe zu einer Bibliothek, seit der Verbreitung des mobilen Internets auch unabhängig von einem Computerarbeitsplatz. Informationen, die man sich früher immerhin noch einprägen musste, weil man nicht ständig eine ganze Bibliothek mit sich herumtragen wollte, können heute bei Bedarf jederzeit gegoogelt werden.

Auch persönliche Arbeitsdokumente – Ideen, Datensätze, Anleitungen – können wir innerhalb weniger Sekunden aus der Cloud herunterladen, wenn wir sie benötigen. Damit brauchen wir auch unser persönliches Fachwissen nicht mehr ständig im Gedächtnis präsent zu haben. Dank Kalender-Apps mit Erinnerungsfunktion müssen wir nicht einmal mehr daran denken, in unseren Kalender zu schauen.

Die rasante Entwicklung der Künstlichen Intelligenz hebt diese Entwicklungen noch einmal auf ein höheres Niveau. KI recherchiert, entwickelt Konzepte, schreibt Texte, erstellt Präsentationen, übersetzt aus fremden Sprachen. Derzeit ist das alles oft noch recht unvollkommen, aber falls die Blütenträume der Entwickler wahr werden, dann entlastet KI nicht mehr nur unser Gedächtnis, sondern enthebt uns im Prinzip sogar der Notwendigkeit, uns manche anspruchsvollen geistigen Fertigkeiten selbst anzueignen. Wenn künftig vielleicht in jedem Haushalt smarte Kühlschränke ausgegangene Lebensmittel selbständig nachbestellen und alle Autos sich selbst steuern, brauchen wir nicht einmal mehr darüber nachzudenken, was wir einkaufen müssen oder was diese bunten Verkehrsschilder eigentlich alle bedeuten.

Wenn Menschen sich nicht mehr mühsam mit Aufgaben abplagen müssen, die sie als belastend empfinden, können sie mehr Energie auf Dinge verwenden, die ihnen wirklich wichtig sind.

Die Vorteile kognitiver Entlastung: Steigerung von Produktivität und Effizienz

Einige der Gründe für die Attraktivität und für den Nutzen von Werkzeugen zur kognitiven Entlastung liegen auf der Hand. Wenn Menschen sich nicht mehr mühsam mit Aufgaben abplagen müssen, die sie als belastend empfinden, können sie mehr Energie auf Dinge verwenden, die ihnen wirklich wichtig sind. Wenn KI z. B. die optische Gestaltung einer Präsentation übernimmt, kann der Mensch sich auf die Sachinhalte konzentrieren.

Auch verweist die Tatsache, dass Menschen Aufgaben als mühsam empfinden, nicht selten darauf, dass der menschliche Geist für diese Aufgaben nicht optimiert ist, weshalb das technische Hilfsmittel hier bessere Ergebnisse erzielt. Die wenigsten Menschen können dreistellige Zahlen sicher im Kopf multiplizieren – der Taschenrechner ist verlässlicher und zugleich schneller. Auch Experimente legen den Schluss nahe, dass durch den Einsatz digitaler Tools kognitive Ressourcen frei werden können, die eine Steigerung von Produktivität und Effizienz ermöglichen. Verschiedene Studien haben diese Zusammenhänge im Detail untersucht (z. B. Gerlich: AI Tools in Society; Grinschgl/Papenmeier/Meyerhoff: Consequences of cognitive offloading).

In vielen Wirtschaftsbranchen macht man sich diesen Effekt zunutze. Moderne KI-Systeme können zum Beispiel große Datenmengen analysieren, Muster erkennen, Gefährdungs- oder Betrugswahrscheinlichkeiten ermitteln und so sowohl die Schadensbearbeitung als auch die Erstellung personalisierter Tarifangebote deutlich beschleunigen. Menschen werden von Tätigkeiten entlastet, für deren Erledigung sie deutlich länger gebraucht hätten, und können sich Aufgaben widmen, bei denen der Mensch nicht zu ersetzen ist, etwa der kompetenten Kommunikation mit Kunden und Partnern. Einen Überblick gibt Stan Bowers von Spear Technologies.

Aber nicht nur im Arbeitsleben kann kognitive Entlastung das Leben verbessern. Viele Menschen, vor allem ältere, müssen mit kognitiven Einschränkungen zurechtkommen. Wenn Gedächtnis und Konzentrationsfähigkeit nachlassen, können digitale Werkzeuge helfen, Defizite zu kompensieren. Studien legen sogar nahe, dass die regelmäßige, kompetente Nutzung von Computern oder Smartphones den Geist auf eine Weise trainiert, dass kognitive Leistungsfähigkeit gar nicht erst verlorengeht. Die Nutzung digitaler Technologien scheint einen ähnlichen vorbeugenden Effekt zu haben wie körperliche Betätigung (Benge/Scullin: A meta-analysis of technology use and cognitive aging).

Kognitive Entlastung bringt auch Probleme mit sich

Der Einsatz von Werkzeugen zur geistigen Entlastung hat allerdings auch Nachteile. Das Grunddilemma: Das Gehirn wird dadurch leistungsfähig, dass man es benutzt. Wer sein Gehirn schont, riskiert den Verlust von Fähigkeiten.

  • Untersuchungen zum sogenannten „Google-Effekt“ zeigen, dass die Auslagerung kognitiver Aufgaben dazu führen kann, dass Menschen sich eher daran erinnern, wo Informationen zu finden sind, als den Inhalt selbst im Gedächtnis zu behalten.
  • Dadurch wird auch die geistige Durchdringung und das Verstehen der Inhalte beeinträchtigt. Denn wenn wir uns etwas einprägen möchten, versuchen wir in der Regel zuvor, es zu verstehen. Dieser Impuls entfällt, wenn wir uns nur merken, dass die Information bei Bedarf unter einem bestimmten Link zu finden ist.
  • Die starke Abhängigkeit von KI-Werkzeugen kann eigene analytische und kreative Fähigkeiten schwächen.
  • Suchmaschinen- und Social-Media-Algorithmen schaffen Echokammern von Gleichdenkenden. Die Fähigkeit, die eigenen Meinungen angesichts von Gegenargumenten kritisch zu hinterfragen, wird schwächer.
  • Die Theorie der „digitalen Demenz“ (Manfred Spitzer) behauptet, dass starker Smartphone- und Internetkonsum Symptome hervorrufen könne, die einer Demenz ähneln; besonders bei Jugendlichen. Diese Befunde sind allerdings sehr umstritten.

Gut belegt scheint aber insgesamt die Vermutung, dass kognitives Offloading zu einer Abhängigkeit von externen Werkzeugen und zu geringerer produktiver Eigenständigkeit führen kann. Die schon erwähnte Studie von Michael Gerlich zu den Auswirkungen von KI warnt, dass der Einsatz großer Sprachmodelle zwar die Produktivität steigern, aber Lernfähigkeit, kritisches Denken und Urteilsvermögen verringern kann.

Für Unternehmen besteht hier die Gefahr eines Verlustes von Mitarbeiterfachwissen: Wenn junge Fachkräfte sich von Beginn an auf KI-Tools verlassen, können sie möglicherweise nicht die eigene analytische und kreative Kompetenz entwickeln, um Aufgaben ohne technische Unterstützung zu bewältigen. Vielleicht sind sie nicht einmal in der Lage, die Qualität der KI-Leistung einzuschätzen. Dann setzt irgendwann nur noch die KI fachliche Maßstäbe und Menschen verlieren die Fähigkeit, das Unternehmen zu steuern.

Was tun? Vom kompetenten Umgang mit digitalen Werkzeugen

Wie kann man die Vorteile kognitiver Entlastung nutzen, ohne die Nachteile in Kauf nehmen zu müssen? Wichtig ist ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Wunsch nach Effizienz und dem Ziel der Entwicklung menschlicher Fähigkeiten. Denn die Leistungsmöglichkeiten des Gehirns sind erstaunlich – und werden selten ausgeschöpft.

  • Bildung und Ausbildung sollten gezielt kritisches Denken und Problemlösung trainieren. Immer wichtiger wird dabei das Vermögen, die Fähigkeiten und Grenzen von KI kritisch einzuschätzen.
  • Arbeitsprozesse sollten so gestaltet werden, dass Raum für fachliche Einschätzungen durch den Menschen bleibt. Vor allem Risikobewertungen, die Beurteilung von Langzeitfolgen und ethische Fragen sollten menschliche Domäne bleiben.
  • Im Alltag tun wir gut daran, nicht alle Möglichkeiten zu nutzen, die die Technik uns anbietet. Eigenes, ständig aktualisiertes Allgemein- und Fachwissen, eigene analytische und kreative Fähigkeiten sowie ein gutes Gedächtnis bleiben zentrale Lebenskompetenzen. Ohne sie wird es auch weiterhin keinen überdurchschnittlichen beruflichen Erfolg geben.

Weitere Anregungen gibt Raquel Loga von der IE University in Madrid.

Der kompetente Umgang mit Entlastungstools erfordert zuweilen digitale Enthaltsamkeit. Vielleicht wird die hierzu nötige Selbstdisziplin künftig selbst zu einem zentralen Ziel bei Qualifikation und Persönlichkeitsbildung. Der Weg zu diesem Ziel beginnt in Schule und Familie. Aber auch die berufliche Ausbildung muss Wissen um die Grenzen des sinnvollen Einsatzes digitaler Werkzeuge vermitteln. Denn Entlastung ist kein Selbstzweck: Glück und Erfolg, Kreativität und Produktivität sind ohne geistige Anstrengung nicht zu haben.

Selbst lesen ...

... statt von der KI zusammenfassen zu lassen: Dieser Text hat etwa 1.300 Wörter. Wenn Sie ihn bis zum Ende gelesen haben, haben Sie wieder einiges für den Erhalt Ihrer kognitiven Fähigkeiten getan …

Text: Thorsten Kleinschmidt


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