Corona: Mehr verstehen, weniger fürchten


Risikoforscher Gerd Gigerenzer beurteilt die aktuelle Situation

Magazin, 23.04.2020

Gerd Gigerenzer ist Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz der Uni Potsdam und wissenschaftlicher Pate des ERGO Risikoreports. Im Interview äußert sich der Psychologe zu Corona, über das richtige Verständnis von Zahlen, das „Comeback“ der Wissenschaft und warum die Gesellschaft wachsam bleiben sollte.

  Professor Gerd Gigerenzer / © David Ausserhofer

Professor Gerd Gigerenzer / © David Ausserhofer

Herr Professor Gigerenzer, Sie sind Risikoforscher. Viele Menschen haben das Risiko, das von Corona ausgeht, lange unterschätzt. Wollten wir die Gefahr schlicht nicht wahrhaben, lag diese zu weit weg oder was waren die Gründe für dieses Verdrängen?

Ich glaube nicht, dass „Verdrängen“ das richtige Wort ist. Es herrschte zunächst ein großes Maß an Ungewissheit. Das Risiko, das von Corona ausgeht, war lange nicht

Mittlerweile dominiert Corona den Alltag. Wie kann jeder Einzelne jetzt das Richtige tun?

Der „ERGO Risikoreport“ zeigt ganz deutlich, dass wir mehr Risiko-Kompetenz brauchen. Dazu gehören etwa ein besseres Zahlenverständnis um Risiken richtig einzuschätzen und die emotionale Kompetenz, Ungewissheit zu ertragen. Laut des letzten Reports fürchteten sich die Deutschen vor allem vor Terrorismus. Dabei ist es wahrscheinlicher, hierzulande von einem Blitz getroffen zu werden als Opfer eines Terroristen zu werden. Wir haben aktuell zwei Zahlen, die uns Angst machen: die Zahl der Neuinfektionen und die der Corona-Toten. Aber verstehen wir diese Zahlen

Muss jeder für sich das Risiko definieren, das er bereit ist einzugehen, oder kann ihm die Gesellschaft dabei helfen?

Die Gesellschaft – und die Wissenschaft – können hier sehr viel helfen. Dies ist sicherlich eine der positiven Folgen dieser Pandemie: Die Wissenschaft erlebt sozusagen ein Comeback in den Medien. Die Menschen versuchen sich verstärkt an den Fakten zu orientieren, die die Wissenschaft liefert.

Die Forderungen nach einem noch härterem Shutdown und weiteren Lockerungen stehen sich fast unversöhnlich gegenüber. Wie beurteilen Sie die Lage?

Wir stehen in Deutschland international gesehen relativ gut da. Aber: Wir müssen nicht nur den Kampf gegen die Ausbreitung des Virus im Auge behalten, sondern auch die Kosten dieses Kampfs. Das gilt zum Beispiel für die Gesundheit. Es ist sicherlich kein guter Trend, wenn Menschen mit Herzbeschwerden nicht mehr ins Krankenhaus gehen, weil sie fürchten, sich dort mit dem Corona-Virus anzustecken. Wir dürfen nicht aus Angst vor dem Risiko andere tödliche Risiken eingehen.

Glauben Sie, dass die Menschen aus diesem ungewöhnlichen Heute auch etwas Gutes für Morgen mitnehmen können – und dies auch tun werden?

Ich hoffe dies sehr. Der Bundespräsident und die Bundeskanzlerin haben ja immer wieder zu Solidarität aufgerufen. Eine Tugend, die schon in Nicht-Corona-Zeiten eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Aber die Krise macht deutlich, dass wir nur gemeinsam erfolgreich sein können. Zudem hoffe ich, dass Menschen lernen, Ungewissheiten besser zu verstehen. Marie Curie, die erste Frau, die den Nobelpreis erhalten hat, hat mal gesagt „Man braucht im Leben nichts zu fürchten, man muss es nur verstehen“. Jetzt ist die Zeit mehr zu verstehen, damit wir weniger fürchten. Und ich beobachte, dass sich viele Menschen jetzt mehr mit Zahlen und Fakten auseinandersetzen. Diese neue Form des Mitdenkens stimmt mich durchaus positiv.

Ähnliche Beiträge

Magazin 13.04.2018

„40 Prozent der Deutschen haben keine Ziele"

Vorzeitiger Ruhestand, starker Staat, Gesundheitsampel. Der ERGO Risiko-Report zeigt, dass es um die Risiko-Kompetenz und Eigenverantwortung der Deutschen nicht gut bestellt ist. Gerd Gigerenzer, Max-Planck-Professor und wissenschaftlicher Pate des Reports, spricht hier über die Ergebnisse.

Magazin 04.06.2018

Wie halten Sie es mit Ihrer Datensicherheit?

Der ERGO Risiko-Report hat es gezeigt: Viele der mehr als 3.000 befragten Deutschen könnten mehr für ihre persönliche Datensicherheit tun. Doch was genau? Wir haben dazu unseren IT-Sicherheitsexperten Sebastian Spooren befragt.

Magazin 05.07.2019

„Alexa, starte Risikowissen“

In diesen Tagen hat ERGO den elften Alexa-Skill veröffentlicht. „Risikowissen“ vermittelt die Ergebnisse des ERGO Risiko-Reports auf spielerische Weise mit einem Frage-Antwort-Spiel. Die Idee kam aus der Kommunikation von Stefanie Neumann (49), die das Projekt Risiko-Report leitete.